Versicherungen arbeiten intensiv daran, ihre Geschäftsmodelle zu erneuern. Ein modernisiertes Aktuariat spielt dabei eine Schlüsselrolle. Warum? Das habe ich meinen Kollegen und ausgebildeten Aktuar Diego Rivas gefragt.
Das Versicherungsgeschäft wirkt von außen wie ein langer, ruhiger Fluss. Trügt der Schein?
Heute – eindeutig ja. Der Markt ist längst gesättigt, und es findet ein harter Verdrängungswettkampf statt. Zudem hat sich die Haltung der Verbraucher erheblich verändert. Kunden sehen heute in einer Versicherung kein hohes Gut mehr, sondern eine Ware wie jede andere auch – und sie entscheiden sich oft vor allem nach dem Preis.
Aber Versicherer können doch auf eine treue Kundenbasis bauen?
Wenn es um klassische Kompositversicherungen geht, stimmt das nicht mehr. Viele Verbraucher kaufen heute Versicherungen über Preisvergleichsportale. Den klassischen Weg direkt zum Versicherer oder zur Agentur wählen sie immer seltener. Die persönliche Beziehung spielt hier keine Rolle mehr.
Also entscheidet der Preis. War das nicht schon immer so?
Natürlich war das immer ein Faktor. Aber heute ist die Transparenz durch das Web und insbesondere durch Vergleichsportale jederzeit gegeben. Dazu kommt, dass Kunden heute viel aufgeschlossener sind gegenüber neuen Angebotsmodellen. Verhaltensabhängige Prämien etwa bei Kranken- oder Kfz-Versicherungen – früher undenkbar, heute für viele interessant. Zahlreiche „Neulinge“ im Versicherungsgeschäft, etwa die Automobilhersteller oder E-Commerce-Anbieter, setzten das auch um. Das erhöht den Druck auf die etablierten Versicherer.
Passiert das bereits?
DR: Ja, definitiv gibt es in jedem Versicherungsmarkt in ganz Europa einen oder mehrere Akteure, die "die Regeln ändern", indem sie fortschrittliche Algorithmen verwenden, bei denen die Regulierungsbehörde es zulässt oder von diesen Techniken profitiert, um eine signifikante Gewinnsteigerung in den traditionellen Geschäftsbereichen zu erzielen.
Dann ist es mittelfristig ein Wettbewerbsvorteil?
DR: Mehr als das, es ist in der Tat eine Frage des Überlebens. Wenn die Versicherer ihre Tarife weiterhin auf die altmodische Weise berechnen, wird ihr Marktanteil sinken und am Ende können viele etablierte Akteure verschwinden.
Und warum springen die nicht einfach auf diesen Zug auf?
DR: Der Druck aus dem Markt ist nicht die einzige „Baustelle“ der Versicherungen. Sie stehen unter regulatorischem Druck – Stichworte IFRS oder Solvency II. Gleichzeitig leiden sie unter geringen Renditen ihrer eigenen Investitionen. Das drückt auf die Profitabilität. Vor allem aber können die etablierten Infrastrukturen und Prozesse im Pricing nicht immer mit der Dynamik Schritt halten, die der Markt fordert.
Was heißt das in der Praxis?
DR: Pricing in Versicherungen ist ein komplexer, langwieriger Prozess. Er beginnt mit dem „technischen“ Pricing, also der Theorie, und mündet dann ins marktbezogene Pricing. Anschließend kommen Rating und natürlich Monitoring. Neben dem Aktuariat sind daran auch Marketing, Vertrieb und die IT beteiligt. Da kann man sich gut vorstellen, dass so ein Vorgang dauert. Und das gilt nicht nur für neue Produkte, sondern auch für Änderungen im Zuge von Tarifoptimierungen. Dazu kommt, dass für die Abbildung eines Tarifes in den IT Systemen meist ein Recoding notwendig wird. Allein das nimmt durchschnittlich rund vier Monate in Anspruch.
Der Aktuar kann also nicht ohne Weiteres einen Tarif modellieren und auf den Markt bringen?
DR: Nein, kann er nicht. Aber er sollte es können – und zwar viel schneller als bisher. Denn gerade die neuen Konkurrenten im Markt agieren ganz anders. Kfz-Versicherung nach Fahrstil? Reiseversicherung „to go“? Möglich ist das heute alles. Wenn die traditionellen Versicherer da mitgehen wollen, muss die Tariferstellung moderner, agiler und dynamischer werden.. Und plötzlich steht das Aktuariat wieder im Mittelpunkt.
Der Aktuar als Treiber des Versicherungsgeschäft?
DR: Sicher. Das Herzstück war er schon immer, aber jetzt muss er mehr denn je innovativ arbeiten können.
Und was braucht das Aktuariat dazu?
DR: Die Bereitschaft des Unternehmens, den Pricing-Prozess weiterzuentwickeln. Und leistungsfähige Werkzeuge, die den Rating- und Pricingprozess näher an das Ziel „real-time“ zu bringen. Der moderne Aktuar ist auf agile Methoden angewiesen, um Tarife erheblich schneller entwickeln und in die eigentliche Produktion bringen zu können. Mit Machine Learning zum Beispiel ist das heute deutlich einfacher geworden.
Wie sieht das im Alltag aus?
DR: Versicherer brauchen dringend und ständig neue Produkte für bestehende Märkte und für bislang unbesetzte Marktnischen. Mit Standardmethoden ist das eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen – mit Analytics und Machine Learning auch für den einzelnen Aktuar machbar. Damit können sie zum Beispiel ohne Weiteres externe Quellen wie Telematikdaten in ihre Modelle einbeziehen. So wird eine Risikoabschätzung deutlich präziser. Auch die Variablenauswahl für die Modellerstellung lässt sich erheblich beschleunigen und verbessern. Und wenn ein Tarifmodell steht, sind Simulation und Benchmarking keine Herkulesaufgaben mehr, sondern nur wenige Arbeitsschritte entfernt.
Der Aktuar kann damit …
DR: …ganz anders arbeiten. Eine analytische Plattform gibt ihm die Möglichkeit, auch mal ungewohnte Wege zu beschreiten, ungewöhnliche Modelle zu testen, neue Produkte anzudenken und zu simulieren. Er ist viel weniger mit organisatorischen Dingen und Pflicht-Prozessen beschäftigt und kann deutlich kreativer an seine Aufgabe herangehen.
Sind Versicherungen denn wirklich bereit und auch rechtlich in der Lage, ihre Datenlandschaft so radikal umzustellen?
DR: Das müssen sie gar nicht. Natürlich können und sollen die bestehenden Infrastrukturen im Aktuariat grundsätzlich bestehen bleiben. Das Konzept von SAS sieht vor, eine analytische Plattform an diese Strukturen anzudocken und sie gezielt zu ergänzen und zu entlasten. Das geht von der Datenaufbereitung über das Modeling bis hin zum Pricing in Echtzeit. Ziel ist es, den gesamten Prozess effizienter zu machen und Funktionalitäten zu ergänzen, die ohne Analytics gar nicht möglich sind. Zum Beispiel eine wirksame Model Governance.
Alles graue Theorie?
DR: Absolut nicht. Versicherungen, die die SAS Platform nutzen, liefern überzeugende Zahlen. Zum Beispiel bis zu zwölf mögliche Tarifanpassungen pro Jahr statt wie bisher drei. 20 Prozent geringere IT-Kosten. Anstieg der Neuabschlüsse um bis zu drei Prozent.
Eine Frage noch: Wir haben jetzt viel über neue Versicherungsabschlüsse geredet. Liegt nicht auch viel Potenzial in den Bestandskunden?
DR: Allerdings. Und auch dieses Potenzial wird oft noch zu wenig genutzt. Auch hier hilft Analytics von SAS weiter.