Wer glaubt, die Digitalisierung hätte dem Thema Versicherungsbetrug den Garaus gemacht, der irrt – gewaltig. Nach wie vor ist einer von zehn gemeldeten Schäden und Ansprüchen erfunden oder manipuliert. Der Schaden: mindestens 4 Milliarden Euro allein in Deutschland – und das nur bei Sachversicherungen, also ohne Lebens- oder Krankenversicherungen. Den typischen Betrüger gibt es dabei nicht: Von der Schwindelei in Einzelfällen über gewerbsmäßigen Betrug im großen Stil bis zur Terrorismusfinanzierung durch Versicherungsbetrug ist alles dabei. In der Branche kursiert deshalb die Erkenntnis: Fraudsters love digital.
Die im Rahmen der Digitalisierung heute notwendige Standardisierung, Verschlankung und Beschleunigung von Prozessen, besonders in Verbindung mit kundenfreundlichen Maßnahmen wie zum Beispiel der Einführung von Schaden-Apps oder dem Verzicht auf Originaldokumente, hat hier neue Gefahrenpotenziale geschaffen.
Die Gründe dafür sind bei genauerer Betrachtung einleuchtend: Erstens verringert sich der persönliche Kontakt mit einem Sachbearbeiter, dessen „Riecher“ helfen kann, verdächtiges Verhalten von vornherein zu erkennen. Die digitale Anonymität kommt hier insbesondere internationalen Betrugsringen entgegen. Zweitens: Professionelle Betrüger wissen, dass die automatisierte Betrugserkennung nach wie vor meist mit starren Regelwerken funktioniert. Betrüger testen verschiedene Vorgehensweisen aus und wissen anschließend genau, wo die Schwachstellen liegen.
Nach einer aktuellen Untersuchung zum Reifegrad des Versicherungssektors im Hinblick auf den Einsatz von Analytics verlässt sich rund ein Drittel der Unternehmen nach wie vor ausschließlich auf regelbasierte Systeme (Quelle: SAS European Fraud Survey Research Report– David Hartley, Director, Fraud & Financial Crime).
Um Betrügern auch im digitalen Zeitalter auf den Fersen zu bleiben, ist es erforderlich, dass Versicherungen nicht starr in Regeln denken, sondern verdächtige Muster und Anomalien erkennen – auch wenn diese so zuvor noch nicht vorkamen. Nur die „Amateure“ unter den Versicherungsbetrügern machen noch so banale Fehler wie auffällige Adressgleichheiten (wobei andererseits die absolute Zahl der „Amateure“ sehr hoch ist und sie deshalb nicht vernachlässigt werden dürfen). Üblicherweise sind heute die Anomalien, die organisierte Betrugsringe verraten können, weit weniger offensichtlich und sehr geschickt kaschiert.
Weg vom Einzelfall, lautet deshalb die Devise. Analytische Methoden betrachten die Gesamtheit der Fälle und leiten daraus Auffälligkeiten ab, können also leicht statistische Ausreißer erkennen. In einem Quartal kommen aus einer Stadt Dutzende von ähnlichen Schadensmeldungen über den annähernd selben Betrag von knapp unter 1.000 Euro? Ein regelbasiertes System lässt das ungerührt, wenn 1.000 Euro als Untergrenze für relevante Schäden festgelegt ist und alles darunter nicht näher untersucht wird. So etwas findet nur ein erfahrenes Ermittlerteam merkwürdig – oder eben ein analytisches Betrugserkennungssystem. Eine solche Plattform bildet einen komplexen Score aus den Parametern des Schadensfalls und des Kunden und zeigt die Hochverdachtsfälle in einem Frontend für den Sachbearbeiter an. Es hilft also effizient, das Richtige zu tun und die Fälle zu definieren, die den größten Erfolg für die manuelle Weiterverfolgung versprechen.
Noch einen Schritt weiter in Richtung explorative Untersuchung geht die sogenannte Soziale-Netzwerk-Analyse und -Visualisierung. Hier nutzen analytische Systeme komplette Datenbestände, um visuell Muster und Querverbindungen aufzuzeigen, die aus den reinen Einzeldaten nicht zu erkennen sind – also etwa multidimensionale Zusammenhänge zwischen Personalien, Wohnorten, Zahlungsverbindungen und Schadensverläufen.
Insbesondere für die Soziale-Netzwerk-Analyse ist es zunehmend wichtig, nicht nur strukturierte Daten zu nutzen (also Zahlen und Tabellen), sondern auch unstrukturierte Informationen einzubeziehen. Dazu gehören etwa der Schriftverkehr mit dem Support, Aufzeichnungen von Hotline-Gesprächen oder auch Bilder. Heute gehen die Möglichkeiten hier über die einfache Textanalyse weit hinaus: Durch Sentimentanalyse zum Beispiel ist es möglich, voll automatisiert auch die Tonalität zu einem bestimmten Thema in einer Konversation zu erfassen.
Versicherungen und ihre Ermittler benötigen Mittel, um einfach und visuell gestützt Fragen an das System zu stellen und in Echtzeit Antworten darauf zu bekommen. Denn bei aller Automatisierung und Entpersonalisierung des digitalisierten Versicherungsbetriebs: Die Vorgehensweisen der Versicherungsbetrüger standardisieren sich nicht. Ganz im Gegenteil.