Im Kölner Stadtteil Mülheim und unweit der Keupstraße mit ihrem orientalischen Charme aus Dönerrestaurants, Baklava, Cafés und Moscheen, neben alten Backsteinhallen mit Konzertsälen und Fernsehstudios liegt mit dem Carlswerk eine große ehemalige Industriefläche, die mittlerweile zum Gewerbegebiet mit vielen jungen und etablierten Unternehmen, Restaurants und Freizeitmöglichkeiten geworden ist. Im sogenannten Schanzenviertel (Köln, nicht Hamburg!) sieht es nicht gerade nach dem Ort aus, an dem die Zukunft der deutschen Versicherungswirtschaft mitgeprägt wird. Und doch passiert an diesem Ort genau das: Hier hat das InsurLab Germany seinen Sitz – eine Plattform, die etablierte Versicherer mit Technologie-Start-ups, InsureTechs, Technologie-Unternehmen, Forschungs- und Beratungspartnern zusammenbringt, um die digitale Transformation der deutschen Versicherungswirtschaft zum Erfolg zu führen.
Ich hatte Gelegenheit, mich mit dem InsurLab-Geschäftsführer Sebastian Pitzler und Partnermanager Herbert Jansky zu unterhalten, um zu verstehen, wie Innovation in der deutschen Versicherungswirtschaft heute funktioniert.
Andreas Becks: Amazon will demnächst Lebensversicherungen verkaufen und meinen Hausrat oder meine gekauften Produkte gleich mitversichern. Ist Alexa mein neuer Versicherungsmakler? Was bedeutet dieses Szenario für die deutsche Versicherungswirtschaft?
Sebastian Pitzler: Das Thema Digitalisierung und Innovationskraft beschäftigt die deutsche Versicherungswirtschaft heute mehr denn je. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum es uns als InsurLab Germany gibt. Wir sind mittlerweile Deutschlands größte Brancheninitiative zur Vernetzung von Start-ups und Versicherungsunternehmen. Man hat klar erkannt, dass neue Möglichkeiten aus der Digitalisierung heraus entstehen, sowohl in Richtung Kunde als auch bei internen Prozessen, etwa durch Automatisierung. Technologien wie künstliche Intelligenz, Blockchain oder das Internet der Dinge versprechen Potenzial für erhebliche Innovationen, neue Produkte und Services. Versicherer müssen sich den veränderten Kundenansprüchen und -verhaltensweisen anpassen. Wir alle erleben in unserem Alltag Produkte und Dienstleitungsniveaus, die so ganz anders sind als das, was wir von Versicherungen bisher kennen. Hier greift also einiges ineinander: Das Bewusstsein, dass man für Digitalisierung aktiv werden muss, ist da. Es entstehen gerade auch neue Formen der Kooperation mit Start-ups und auch die Bereitschaft, gemeinsam aktiv zu werden. Insofern haben wir ein großartiges Momentum, sich diesem Thema zu stellen und wirklich Versicherung neu zu denken – insbesondere, wenn von ganz anderer Seite, wie beispielsweise von Amazon, ein solcher Druck entsteht.
Herbert Jansky: Bei den aktuellen Entwicklungen muss man auch ganz genau hinsehen: Tritt Amazon nur als Schnittstelle zwischen Versicherer und Kunde auf, wie z. B. ein Aggregator? Oder möchte Amazon irgendwann tatsächlich selber Risikoträger sein? Die Schnittstelle Internet ist bereits gegeben, zum Beispiel über Aggregatoren wie Check24 oder eine gezielte Onlineplatzierung wie mit Google AdWords – wie sie Amazon aber spielt, ist spannend zu beobachten. Und da wird vermutlich außerhalb von Deutschland im Moment noch mehr ausprobiert werden.
Andreas: Welche Themen treiben die Versicherungen heute insbesondere im Kontext der Digitalisierung um?
Sebastian: Wir haben dazu eine Umfrage unter unseren Mitgliedsunternehmen gemacht. Die Top-Themen sind Digitalisierung der Kundenschnittstelle, künstliche Intelligenz/Predictive Analytics/maschinelles Lernen, Blockchain und Smart Contracts, Fraud Detection and Prevention, aber auch das Internet der Dinge mit „Einsatzgebieten“ wie Smart Home, Connected Cars und Digital Health.
Andreas: Diese Themen und auch die angesprochenen Disruptionsszenarien sind ja nicht ganz neu und werden schon länger diskutiert. Wir nehmen wahr, dass Versicherungen sehr unterschiedlich stark darauf reagieren und zum Teil noch eher verhalten in Innovationsinitiativen gehen. Das InsurLab Germany ist auch eine lebhafte Austauschplattform. Aber hat sie wirklich eine strategische Bedeutung für die Mitglieder, oder ist es eher eine Freizeitveranstaltung für interessierte Mitarbeiter von Versicherungen?
Sebastian: Aus unserer Sicht steht ganz klar die strategische Bedeutung für die Entwicklung der Mitgliedsunternehmen im Vordergrund. Aus zweierlei Hinsicht: zum einen, um am Puls der Zeit zu sein und mitzubekommen, was die Trends und die Technologien sind, die sich entwickeln, und wie man sie in die Versicherungswirtschaft übersetzen kann. Wir sehen uns da als Vermittler und Übersetzer. Zum anderen sind wir eine Netzwerkplattform, um sich gemeinsam diesen Herausforderungen zu stellen, aber auch spannende neue Partner zu finden. Bei unseren Veranstaltungen nehmen viele Vorstände und Entscheider von Versicherern teil. Und daher legen wir wirklich sehr viel Wert darauf, dass wir in den unterschiedlichen Angebotsformaten, die wir entwickelt haben, ganz konkrete Begegnungsmöglichkeiten schaffen, wo an konkreten Projekt- und Innovationsideen gearbeitet wird. Wir veranstalten Workshops mit klar definierten nächsten Schritten, um die Umsetzung der Ergebnisse voranzutreiben. Wir sehen uns nicht als "nette Event-Agentur". Wir wollen einen spürbaren Impact erzielen, der die Versicherungswirtschaft nachhaltig verändert und an das Thema Digitalisierung heranführt.
Andreas: Wie kann ich mir so einen Workshop-Tag konkret vorstellen? Was passiert, und was ist das Ergebnis?
Herbert: In unsere Innovationswerkstatt laden wir gezielt Start-ups zu einem festgelegten Thema ein, z. B. Digitalisierung der Kundenkommunikation oder Predictive Analytics und maschinelles Lernen, wozu SAS ja auch die Keynote gehalten hat. Zielsetzung ist, dass wir möglichst viele konkrete Projekte oder PoCs entwickeln, die zwischen den Versicherungen und Start-ups entstehen. Wir haben meist vier bis fünf Start-ups, die ihre Idee, ihr Geschäftsmodell oder ihre Technologie pitchen und damit den Versicherern vorstellen. Nach den Pitches stellen sich die Start-ups wie auf einem Markt in verschiedene Ecken des Raums, und die Versicherungsvertreter wählen das für sie interessanteste Start-up, mit dem eine irgendwie geartete Kooperation spannend sein könnte. Die genaue Projektidee wird dann im Anschluss den gesamten Nachmittag in jeweils kleinen Workstream-Arbeitsgruppen ausgearbeitet. Damit das gut funktioniert, wird jede Arbeitsgruppe von Unternehmensberatern aus unseren Mitgliedsunternehmen begleitet, die den Ablauf moderieren. Am Ende des Tages stellen die einzelnen Arbeitsgruppen dem gesamten Teilnehmerkreis des Tages die Ergebnisse vor.
Andreas: Wie sieht es denn mit der Nachhaltigkeit der Workshops aus?
Herbert: Nehmen wir als Beispiel unsere Innovationswerkstatt zur Digitalisierung der Kundenbeziehung. Dort haben wir 10 mögliche Projekte, sogenannte „Proof of Concepts“, aufs Papier gebracht. Und es bleibt nicht bei der reinen Absicht: Das erste Folgeprojekt ist schon beauftragt und gerade in der Abschlussphase – entwickelt wurde ein Alexa-Skill zur Kundenkommunikation –, und mehrere weitere Projekte sind im Ramp-up.
Andreas: Das klingt doch gut. Wie nehmt ihr die Innovationskultur und Agilität insgesamt in der deutschen Versicherungswirtschaft wahr? Werden wir die Ideen auch bald als Versicherte erleben können? Wie stellen die etablierten Versicherungen sicher, dass innovative Ideen auch nachhaltig umgesetzt werden?
Herbert: Das InsurLab Germany wurde ja von der Versicherungsbranche gemeinsam mit Politik und Wissenschaft ins Leben gerufen, um sich genau der Digitalisierung und Innovation zu widmen. Der Impuls kam von der Branche, unser Rahmenprogramm ist gemeinsam mit den Mitgliedern entwickelt worden. Wir als Kernteam setzen dieses Programm um und geben eigene Impulse dazu. Aber alles, was wir machen, steht in engem Austausch mit den Mitgliedsunternehmen.
Sebastian: Das Thema und der damit verbundene Innovationsdruck ist bei den Top-Entscheidern der Versicherungen angekommen. Ja, die Unternehmen sind unterschiedlich weit, was Innovationskultur und Prozesse angeht. Aber der unbedingte Wille ist eben da, sich auszutauschen, zu kooperieren und Innovationsprojekte umzusetzen. Vor Kurzem war ich als Panel-Moderator auf der sogenannten Digisurance-Konferenz eingeladen. Die einhellige Sicht und breite Erkenntnis über verschiedene Diskussionen und Keynotes an diesem Tag waren: Echte Innovation entsteht da, wo etablierte Unternehmen mit den „jungen Wilden“ (Start-ups) kollaborieren und gemeinsame Projekte starten. Im eigenen Saft alleine wird es für die Versicherungen eben nicht gehen. Offenheit und Kollaboration ist das Motto der Zukunft.
Vielen Dank für das Gespräch!