Fast 200 Todesopfer (davon 134 allein im Ahrtal), 33 Milliarden Euro an Sachschäden – das Hochwasser im Ahrtal 2021 war die teuerste Naturkatastrophe der europäischen Geschichte. Und weniger als ein Viertel der betroffenen Assets war versichert. Wer die Risiken von Überschwemmungen und anderen Naturereignissen früher erkennen und präziser einschätzen will, um sich besser schützen zu können, braucht prädiktive Analytics. Wie das aussehen kann, zeigt das Projekt LiveEO #2 beim diesjährigen SAS Hackathon. Das deutsch-internationale Team um Manuel Gremblewski wurde in der Kategorie Versicherungswesen als Gewinner gekürt. Mit kommerziellen und Open-Source-Satellitendaten hat das Team ein Modell zur Überwachung und Vorhersage von Überschwemmungen entwickelt, mit dem Versicherer fundierte Entscheidungen über das Risikopotenzial für Gebäude treffen können. David Weik, einer der Mentoren beim Hackathon, lässt das Projekt zusammen mit dem Business Development Manager von LiveEO noch einmal Revue passieren.
David Weik: Hallo Manuel, zunächst einmal: herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung beim SAS Hackathon! Die Einbeziehung von Satellitendaten für die Berechnung von Klimarisiken nannte die Jury eine „innovative Idee und einen spannenden Use Case“ für die Versicherungsindustrie. Wie kam es zu der Idee?
Manuel Gremblewski: Der Startschuss für LiveEO #2 fiel schon vergangenes Jahr im Rahmen einer Veranstaltung der Kollaborationsplattform InsurLab Germany. Dort haben wir zusammen mit den SAS Experten einen Showcase zum Flutthema erstellt – und wurden prompt eingeladen, die Idee beim SAS Hackathon auszuarbeiten. Eine Challenge, die wir uns nicht entgehen lassen konnten und wollten. Wir haben unser Projekt dann auch für andere Teilnehmer geöffnet – und Howard Askew gefunden, einen auf Versicherungsthemen spezialisierten Data Scientist, der die gesamte Implementierung übernommen hat.
Das Besondere an dem Projekt besteht für mich darin, dass bisher quasi nicht versicherbare Risiken auf einmal berechenbar werden – dadurch entstehen ganz neue Geschäftsmodelle für Versicherungen. Und die Herangehensweise: Wir haben uns dem Thema erst mal ergebnisoffen genähert, haben sozusagen auf der grünen Wiese entwickelt.
Weik: Wie war dann die Zusammenarbeit mit Howard – und die Umsetzung des Projekts?
Gremblewski: Das Ganze war – wie meistens – ein iterativer Prozess. Wir von LiveEO haben die Daten geliefert – sowohl kommerzielle Satellitendaten als auch öffentlich zugängliche. Howard hat ein Modell trainiert, das sukzessive optimiert wurde, bis wir das beste Modell für die Berechnung von Überschwemmungsrisiken gefunden haben. Dabei kamen nach und nach immer mehr Metriken ins Spiel. Wir haben einen Rheinuferabschnitt als Beispiel genommen. Einer der Faktoren war zunächst die Entfernung des Rheinufers bis zu den betroffenen Gebäuden. Neben einer Bewertung der Assets kam eine Analyse der Oberfläche mithilfe von Computer Vision hinzu. Handelt es sich um einen Hang oder eine flache Stelle? Welche Nutzflächen liegen dazwischen, welche Ernteausfälle würden beispielsweise drohen? Welche Rolle spielen die Vegetation und nicht versiegelte Flächen? Anhand einer Szenarioanalyse konnten wir dann ermitteln, was passiert, wenn der Wasserstand um fünf Prozent steigt. Je mehr Faktoren einbezogen werden, desto präziser wird die Prognose.
Weik: Welche SAS Lösungen kamen zum Einsatz, und welche Datenquellen habt ihr verwendet?
Gremblewski: In SAS Studio haben wir die Risikomodelle erstellt, auf der Cloud-nativen Analytics-Plattform SAS Viya die Daten ausgewertet und mit SAS Visual Analytics die Ergebnisse veranschaulicht. Als Datenbasis haben wir unsere eigenen Satellitendaten mit öffentlich zugänglichen Daten verknüpft, unter anderem über Open-Source-Portale wie das INSPIRE Geoportal oder Open Street Map. Allein die Open-Source-Daten reichen von der Auflösung oft nicht aus, wenn es zum Beispiel darum geht zu unterscheiden, ob es sich um ein privates Gebäude oder eine Gewerbeimmobilie handelt.
Weik: Hat das Thema Potenzial für die Wirtschaft?
Gremblewski: Auf jeden Fall! Als Softwareunternehmen mit Kunden wie der Deutschen Bahn oder E.ON haben wir ähnliche Anwendungsszenarien bereits für andere Branchen durchgeführt. Das Thema Naturkatastrophen beziehungsweise deren Absicherung ist seit Langem eine Top-Priorität bei Assekuranzen. Auf Basis einer prädiktiven Risikoberechnung können sie gezielt Versicherungsangebote für Assets erstellen, für die die potenziellen Schäden am größten wären. Risiken lassen sich bis auf einzelne Gebäude herunterbrechen – und damit auch die Höhe einer fair, transparent und nachvollziehbar berechneten Versicherungspolice. Zudem bieten Mikroversicherungen, bei denen die Assets zu einer bestimmten Zeit höher versichert sind – beispielsweise im Frühjahr nach der Schneeschmelze, wenn das Risiko für Hochwasser generell steigt –, mehr Flexibilität und Spielraum für personalisierte Angebote.