Wie schon gesagt, ich bin Gamer. Ich bin außerdem Freizeit-Spieleentwickler und Angestellter. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Gamification (ich möchte hier bei der englischen Schreibweise bleiben) ein interessantes Thema für mich ist. Gemeint ist damit die Übertragung von Techniken, die üblicherweise in Spielen eingesetzt werden, auf andere Bereiche, unter anderem auf die Unternehmenswelt, mit dem übergeordneten Ziel, die Umsätze zu erhöhen. Per Definition zielt Gamification darauf ab, das Verhalten von Menschen zu verändern und sie dazu zu bringen, bereitwillig in der erwünschten Art und Weise zu agieren. Ein einfaches Beispiel ist die Fitness-App, die den Nutzer motiviert, weiter Sport zu treiben, indem sie ihm die positiven Ergebnisse seiner bisherigen Aktivitäten zeigt.
Klassische Gamification-Ansätze im Geschäftsumfeld umfassen Provisionen für Sales-Mitarbeiter, interne Awards für Mitarbeiter oder Belohnungssysteme für Kunden, die ihre Daten preisgeben (beispielsweise in Form von Treuekarten). Modernere Ansätze führen Fitness-Räume und kreative Pausen ein.
Der letzte Schrei ist die Einführung von echten Spielelementen wie Highscores, Erfahrungspunkten oder virtuellen Gütern in das tägliche Geschäftsleben. Woher kommt das?
Nur noch eine Runde!
Keine Frage: Die Computerspielindustrie ist ein riesiger, stetig wachsender Markt. In der Vergangenheit galt Gaming als nerdiger, unerwünschter, unnötiger Zeitfresser – und wenn man meine Frau fragt, ist es das noch immer. Aber dieses Bild wandelt sich. Es ist etwas im Gange, das Entscheider in Unternehmen aufhorchen lässt. Die Umfrage 2018 Essential Facts About the Computer and Video Game Industry der Entertainment Software Association hat herausgefunden, dass 72 Prozent der US-amerikanischen Gamer über 18 sind, 60 Prozent spielen täglich Videospiele und der durchschnittliche Spieler ist 34 Jahre alt. Sieht nach einer guten Zielgruppe fürs Recruiting aus, oder?
Aber warum spielen Menschen überhaupt Computerspiele? Was lässt sie immer wieder zu einem Spiel zurückkehren und Unmengen an Zeit in es investieren? Die simple Antwort lautet: Spaß! Wenn wir etwas genauer hinschauen, geht es darum, dass das Spiel sie kontinuierlich für ihre Handlungen belohnt, was dazu führt, dass sie nach immer mehr Belohnungen streben.
Schauen wir uns als Beispiel eines der populärsten Spiele aller Zeiten an, Tetris. Es hat Low-End-Grafiken, simple Spielmechaniken und eigentlich nur einen Belohnungsindikator, den Punktezähler. Menschen spielten und spielen auch heutzutage noch immer und immer wieder eine Runde Tetris, nur um einen immer höheren Punktestand zu erreichen. Moderne Spiele verwenden ähnliche Konzepte und ergänzen sie mit besseren Grafiken, sowie komplexeren Spielmechaniken und Belohnungssystemen. Sie verfolgen aber das gleiche übergeordnete Ziel: Spieler dazu zu bringen, immer und immer wieder das Spiel zu spielen, indem es so viel Spaß wie möglich erzeugt. Gamer bezeichnen dieses Gefühl als das „Nur noch eine Runde“-Gefühl, das nicht selten schlaflose Nächte verursachen kann.
Gaming Communities
Das beschreibt allerdings nur die nach innen gerichtete Sicht auf Computerspiele. Dieser Punktezähler in Tetris, kombiniert mit der simplen Spielmechanik, erlauben es außerdem im Prinzip jedem mit jedem anderen zu konkurrieren. Das Spiel erzeugt so Communities, vom Schulhof bis hin zu großen Online-Portalen. Und wussten Sie schon vom jährlich stattfindenden Tetris-Wettbewerb, der auf original Nintendo-Entertainment-System (NES)-Konsolen ausgetragen wird – einem System, das 1983 veröffentlicht wurde?
Wenn Sie sich das Video anschauen, werden Sie feststellen, dass diese Typen ihre Auge-Hand-Koordination auf ein Niveau gebracht haben, das Sie – oder zumindest ich – wahrscheinlich niemals erreichen werden. Diese Verbesserung der individuellen Leistung kam nur durch wiederholtes Spielen eines Spiels zustande, das sie mögen, das ihnen Spaß bereitet. Ein Spiel, dem sie bereitwillig unzählige Stunden ihrer Freizeit widmen. Das ist es, woran wir denken sollten, wenn wir vom Begriff „Gamification“ reden: „Freiwillige Hingabe, die unweigerlich zu persönlicher Verbesserung führt“. Nicht, wie im ersten Absatz erwähnt, an "[mit dem Ziel,]das Verhalten von Menschen zu verändern und sie dazu zu bringen, bereitwillig in der erwünschten Art und Weise zu agieren".
Das Gamification-Rezept
Behält man dies als großes Ziel im Hinterkopf, denke ich, dass die Einführung eines Gamification-Konzepts im Unternehmen alles andere als eine leichte Aufgabe ist. Bei der Entwicklung eines Spiels werden Grafiken, Mechaniken, Belohnungen und alles andere für eine spezielle Zielgruppe entworfen, die sich nach Release (hoffentlich) in eine oder mehrere Communities formiert. Im Geschäftsleben existieren womöglich bereits mehr oder weniger getrennt voneinander agierende Gruppen (oder Communities), die jeweils für sehr unterschiedliche Mechaniken empfänglich sind, denen aber gemeinsame Zielgrößen zugeordnet sind, welche an den Unternehmenskennzahlen ausgerichtet sind. Ein Spiel, das in diesem Umfeld entwickelt werden soll, ist komplex per Definition.
Anstatt nur die Implementierung von einfachen Highscores und Ranglisten vorzuschlagen, möchte ich einen allgemeineren und breiteren Ansatz skizzieren, der auf meiner Auffassung davon basiert, wie Computerspiele funktionieren. Ich denke da an sechs Schichten.
Schicht 1: Allgemeine Idee
Jedes Spiel beginnt mit einer Idee, die definiert, wie das Spiel funktionieren soll – auf einer noch sehr allgemeinen Ebene. Für ein Spiel, das für ein Unternehmen konzipiert wird, bietet es sich an, als allgemeine Idee etwas zu wählen, das sich irgendwie auf die Unternehmenstätigkeit bezieht. Sie verkaufen Häuser? Warum nicht virtuelle Häuser in Ihrem Unternehmens-Spiel bauen?
Schicht 2: Ressourcen
Steht die allgemeine Idee, ist der nächste Schritt die Überführung der Unternehmens-KPIs in Spielressourcen, mit denen Mitarbeiter arbeiten können. Um den verschiedenen Abteilungen gerecht zu werden, die unterschiedliche Spielmechaniken erwarten, werden diese Ressourcen sehr wahrscheinlich hierarchisch aufgebaut sein. Das heißt, man braucht mehrere Ressourcen, um das eine übergeordnete Ressource zu erzeugen. Im Hausbau-Beispiel könnte das jährliche Unternehmensziel der Bau eines Hauses sein, bei dem eine Etage einem bestimmten Umsatz entspricht, Räume stehen für Kunden, Möbel für die Service-Qualität pro Kunde und so weiter.
Schicht 3: Spielmechanik
Die Spielmechaniken beschreiben dann, wie die Ressourcen produziert werden. Im Hausbau-Beispiel könnte dies bedeuten, der Bau eines neuen Stockwerks erfordert einen bestimmten Unternehmensumsatz, ein Zimmer kann erst mit Möbeln ausgestattet werden, wenn es vier Wände hat, und die Wände sind vom Erreichen bestimmter Meilensteine im Projekt abhängig. Je detaillierter die Definition dieser Regeln, desto besser. Mitarbeiter sollten genau wissen, wie sie zum Gesamtziel beitragen können, von wem sie abhängig sind und wer umgekehrt von ihnen abhängig ist. Das führt dazu, dass sie Ihre Relevanz im großen Ganzen erkennen, was eine große Motivation ist.
Schicht 4: Wettbewerb
Damit sich jeder Einzelne verbessern kann, muss das ganze System auf Wettbewerb ausgelegt sein, und das erfordert folgende Faktoren: Einfachheit, Ausgewogenheit und eine Lernkurve. Einfachheit bedeutet, dass die Spielmechaniken für jeden verständlich sein müssen. Wenn man Hunderte von Schritten im Auge behalten muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ist man als Spieler schnell überfordert. Ein Wettbewerbssystem muss außerdem fair sein. Die Ausbalancierung von Spielmechaniken ist gewöhnlich ein fortlaufender Prozess, der durch den Input der Menschen gespeist wird, die darin leben. Und schließlich sollte es eine - wahrscheinlich logarithmische - Lernkurve für die Beherrschung der Spielmechaniken geben. Das ermutigt die Menschen, sich individuell zu verbessern, da sie ihre Leistung direkt mit anderen vergleichen können.
Schicht 5: individuelle Fähigkeiten
Spielcharaktere, mit denen sich die Spieler identifizieren können, fördern dieses Konzept des Wettbewerbs und der persönlichen Verbesserung. Sie machen es außerdem einfacher, Auszeichnungen zu vergeben, ermöglichen, kombiniert mit einem Erfahrungspunkte- und Level-Up-System, die direkte Verfolgung der persönlichen Entwicklung und lassen so Rückschlüsse auf die berufliche Erfahrung im echten Leben zu. Unter Umständen kann dieses Konzept sogar mit Gehältern oder anderen monetären Belohnungssystemen verknüpft werden.
Schicht 6: Umsetzung
Da die Implementierung von Gamification in Unternehmen normalerweise nicht ihr Kerngeschäft ist, bietet sich ein modularer Ansatz an. Sinnvoll ist die Definition eines erweiterbaren Frameworks mit Kernkonzepten, Ressourcen und Mechaniken, dem leicht Funktionalitäten hinzugefügt werden können. Das User Interface könnte webbasiert sein oder auch ein Game-Client auf Basis einer Game-Engine, die im Internet verfügbar ist. Ein großer Teil des Aufwands bei der Entwicklung wird wahrscheinlich in die Schnittstellen zu operativen Systemen fließen.
Ich habe nicht den Anspruch, hier eine erschöpfende Liste erstellt zu haben. Tatsächlich könnte sie endlos erweitert werden. Mein Ziel ist es, eine neue Sichtweise auf Gamification in der Geschäftswelt zu teilen: die des Gamers, nicht die des Unternehmers.
Warum das Ganze?
Unternehmen bewegen sich in einem ähnlichen Umfeld wie Teams in kompetitiven Spielen. So wie sich die Fähigkeiten der beteiligten Teams meist nur sehr wenig voneinander unterscheiden, werden Produkte in der Geschäftswelt immer mehr austauschbar, je mehr sie insgesamt verbessert werden. Unternehmen müssen daher andere Wege finden, um sich ihre Marktposition zu sichern: Die Steigerung der Team-Performance. Gamification ist ein Mittel, um die Motivation hochzuhalten, Teamgeist zu fördern und individuelle Leistungssteigerung zu unterstützen.
Für mich bedeutet Gamification nicht, einige einfache Spielelemente in einem Unternehmen einzuführen. Es geht vielmehr darum, dieses „Nur noch eine Runde“-Gefühl bei Mitarbeitern zu erzeugen – und zwar jeden Tag, wenn sie zur Arbeit kommen. Ich glaube, richtig eingesetzt, führt Gamification dazu, dass das Unternehmen nicht mehr als Unternehmen, sondern als gedeihende Community wahrgenommen wird. Das Spiel wird mit dieser Community wachsen, nicht nur an Größe, sondern auch an Reife. Und in gleichem Maße wächst das Unternehmen.